8. Mai – Jonathan

    Jonathan Harkers Tagebuch

    (in Kurzschrift verfasst)

   

8. Mai

    Als ich mein Tagebuch zu schreiben begann, fürchtete ich, zu weitläufig zu werden; jetzt bin ich aber doch froh, von Anfang an keine Details ausgelassen zu haben. Es ist so merkwürdig hier, dass ich mich wirklich unbehaglich fühle. Ich wünschte, ich wäre wieder fort oder gar nicht erst hierhergekommen. Es mag ja sein, dass mich das seltsame nächtliche Leben hier mitnimmt, aber wenn es nur das allein wäre! Wenn ich nur jemanden hätte, mit dem ich mich aussprechen könnte, dann ließe es sich leichter ertragen. Aber es ist niemand hier. Da ist nur der Graf, aber der … Langsam fürchte ich, die einzige lebende Seele hier in der Burg zu sein … Nun, ich will die Sache so nüchtern betrachten, wie die Fakten es zulassen. Das wird mich aufrechterhalten, denn meine Fantasie darf keine Sprünge machen. Wenn sie damit anfangen sollte, wäre ich verloren. Nun also dazu, wie es um mich steht – oder wie es um mich zu stehen scheint:

    Nachdem ich zu Bett gegangen war, habe ich nur wenige Stunden geschlafen. Als ich dann merkte, dass ich nicht mehr weiterschlafen konnte, stand ich auf. Ich hatte meinen Rasierspiegel am Fenster befestigt und begann mich zu rasieren. Plötzlich hörte ich des Grafen Stimme »Guten Morgen!« sagen und fühlte, wie seine Hand sich auf meine Schulter legte. Ich stutzte, denn ich hatte ihn nicht kommen sehen, obgleich der Spiegel mir das gesamte Zimmer zeigte. Vor Überraschung hatte ich mich leicht geschnitten, achtete aber im Augenblick nicht darauf. Nachdem ich den Gruß des Grafen erwidert hatte, sah ich nochmals in den Spiegel, ob ich mich nicht doch getäuscht hätte, diesmal aber war jeder Irrtum ausgeschlossen: Der Mann stand so dicht hinter mir, dass ich ihn über meine Schulter hinweg erblicken konnte – aber der Spiegel zeigte kein Bild von ihm! Obwohl das ganze Zimmer hinter mir sichtbar dalag, war außer mir niemand zu sehen! Das war äußerst befremdlich und bildete den Gipfel der bisher erlebten vielen kleinen Merkwürdigkeiten. Das vage Unbehagen, das ich von Anfang an in der Nähe des Grafen empfunden hatte, steigerte sich deutlich; zugleich bemerkte ich, dass die kleine Verletzung blutete und dass das Blut über mein Kinn heruntertropfte. Ich legte das Rasiermesser weg und wandte mich um, mir ein Pflaster zu suchen. Als der Graf jedoch mein Gesicht sah, erglänzten seine Augen in dämonischem Feuer, und er streckte die Hand nach meiner Kehle aus. Ich fuhr unwillkürlich zurück, wodurch seine Hand die Perlen meines Rosenkranzes streifte. Das erzeugte einen raschen Wandel in ihm, und seine Erregung legte sich so schnell wieder, dass es schien, als wäre sie nie vorhanden gewesen.

    »Nehmen Sie sich in Acht«, sagte er, »dass Sie sich nie schneiden. In diesem Land ist das gefährlicher, als Sie glauben!« Dann ergriff er meinen Rasierspiegel und fuhr fort: »Und dieses verfluchte Ding hier ist schuld daran. Es ist ein schlechtes Spielzeug menschlicher Eitelkeit. Fort damit!« Mit einer schnellen Bewegung öffnete er das große Fenster und warf den Spiegel hinaus, der tief unten auf dem Pflaster des Burghofes in tausend Scherben zersprang. Dann ging er weg, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Nun muss ich, wenn ich beim Rasieren etwas sehen will, den Deckel meiner Uhr benutzen oder den Boden meiner Seifenschale, die zum Glück aus Metall ist.

    Als ich schließlich ins Speisezimmer hinaustrat, war das Frühstück bereit, aber vom Grafen war nichts zu sehen. So aß ich denn allein. Es ist merkwürdig, dass ich den Grafen bis heute noch nicht essen oder trinken sah; er scheint überhaupt ein komischer Kauz zu sein. Nach dem Frühstück unternahm ich eine Besichtigung der Burg. Ich entdeckte dabei ein kleines Zimmer mit wunderbarer Aussicht nach Süden. Die Burg steht am Rand eines steilen Abgrundes, ein aus dem Fenster geworfener Stein fiele wohl über tausend Fuß tief, ohne irgendwo anzustoßen. So weit das Auge reicht, flutet ein Meer von grünen Baumwipfeln, das nur von Schluchten unterbrochen wird. Da und dort glänzen Flüsse wie Silberstreifen, die sich in tief eingerissenen Betten durch die Wälder winden. Aber ich bin nicht in der Laune, Naturschönheiten zu schildern. Nachdem ich mich einen Augenblick lang dem Reiz dieser herrlichen Natur hingegeben hatte, setzte ich meine Untersuchung fort und fand Türen, Türen, Türen überall; alle verschlossen und verriegelt; nirgends ein Ausweg als durch die Fenster!

    Die Burg ist ein Gefängnis, und ich bin ein Gefangener!

Jonathan Harkers Tagebuch

    (Fortsetzung)

    Als ich zu der Erkenntnis gekommen war, ein Gefangener zu sein, ergriff mich eine Art Raserei. Ich rannte die Stiegen hoch und runter, probierte jede Tür und spähte zu jedem Fenster hinaus, das mir erreichbar war, aber bald überkam mich das Bewusstsein meiner vollkommenen Hilflosigkeit. Wenn ich jetzt nach ein paar Stunden zurückblicke, so scheint es mir, dass ich wirklich verrückt gewesen sein muss, denn ich habe mich wie eine Ratte in der Falle benommen. Nachdem ich dann aber meine verzweifelte Lage eingesehen hatte, setzte ich mich ruhig nieder – so ruhig, wie ich nur je etwas in meinem Leben getan habe – und sann darüber nach, was nun am besten zu tun wäre. Darüber denke ich immer noch nach, und bis jetzt bin ich noch zu keinem Resultat gekommen. Eines aber weiß ich gewiss: Es wäre vollkommen widersinnig, mir vor dem Grafen von meinen Plänen etwas anmerken zu lassen. Er weiß recht wohl, dass er mich gefangen hält, und da er selbst es tut und seine eigenen Beweggründe dafür haben wird, würde er mir höchstens Schwierigkeiten in den Weg legen, wenn ich ihm etwas von meinen Absichten sagen würde. Soweit ich es bis jetzt beurteilen kann, ist es das Beste, ich lasse nichts von meinen Erfahrungen und Befürchtungen verlauten und halte die Augen offen. Ich werde entweder wie ein kleines Kind von meiner Angst getäuscht oder ich befinde mich in einer verzweifelten Klemme. Ist Letzteres der Fall, so muss ich unbedingt meinen ganzen Verstand daransetzen, wieder herauszukommen.

    Kaum war ich zu diesem Entschluss gelangt, da hörte ich, wie sich unten die schwere Tür schloss: Der Graf war wieder zurück. Da er aber nicht zu mir in die Bibliothek kam, ging ich leise in mein Zimmer und traf ihn gerade an, wie er mein Bett in Ordnung brachte. Das war nun sehr merkwürdig, aber es bestätigte mir nur, was ich schon die ganze Zeit vermutet hatte: dass es nämlich gar keine Dienstboten im Hause gab! Als ich ihn dann später durch eine Türspalte das Dinner auftragen sah, war ich meiner Sache sicher, denn wenn er diese häuslichen Verrichtungen alle selbst besorgt, so steht doch außer Zweifel, dass er eben niemanden dafür hat. Ein jäher Schreck durchfuhr mich, denn wenn niemand sonst im Hause war, dann musste der Graf selbst auch das Fuhrwerk gelenkt haben, das mich hierhergebracht hatte. Ein scheußlicher Gedanke, denn hatte er nicht auch Gewalt über die Wölfe gehabt und ihnen mit einem Wink seiner Hand Ruhe befohlen? Warum hatten die Leute in Bistritz und meine Reisegefährten eine so lebhafte Sorge um mich gehabt? Was bedeutete es, dass man mir das Kruzifix, Knoblauch, wilde Rosen und Ebereschenzweige schenkte? Wie dankbar bin ich der guten alten Frau, die mir den Rosenkranz um den Hals gehängt hat; es ist ein Trost und eine Stärkung für mich, ihn zu berühren. Seltsam, dieses Ding, welches ich bisher mit einer gewissen Missachtung als götzendienerisches Symbol zu betrachten gewohnt war, bringt mir nun Hilfe in meiner Einsamkeit und Not. Liegt das an der Beschaffenheit des Dinges selbst oder ist es nur das Medium, das eine trostreiche Erinnerung an das Mitgefühl der Geberin wachruft? Später einmal, wenn es mir noch möglich sein sollte, muss ich diese Sache eingehend studieren und mir Aufklärung darüber verschaffen. Vorerst gilt es, alles auszukundschaften, was den Grafen Dracula betrifft und was mir das Verständnis seines Wesens ermöglichen kann. Heute Abend muss er mir Rede und Antwort stehen, wenn ich das Gespräch auf diese Dinge lenke. Allerdings heißt es, äußerst vorsichtig sein, um seinen Verdacht nicht zu wecken.

    Mitternacht

    Ich habe ein sehr langes Gespräch mit dem Grafen geführt. Ich fragte ihn einiges über die Geschichte seines Geschlechtes und Transsilvaniens, und er wurde bei diesem Thema auffallend warm. Seine Erzählungen von Personen, Ereignissen und insbesondere Schlachten waren so lebhaft, dass man hätte glauben können, er hätte alles selbst erlebt. Er erklärte dies so: Der ganze Stolz eines Bojaren besteht im Ruhm seines Hauses und seines Namens – ihr Ruhm ist sein Ruhm, ihr Schicksal ist sein Schicksal. Wann immer der Graf von seinem Geschlecht erzählte, sagte er »wir«, und auch von sich selbst redete er im Plural, ganz wie ein König. Ich bedauere, dass ich hier nicht alles genau so niederlegen kann, wie er es erzählte, denn es war äußerst faszinierend. Die ganze Geschichte seines Landes schien er vor mir aufzurollen. Er sprach immer erregter und ging im Zimmer umher, wobei er seinen langen, weißen Schnurrbart strich und seine starken Hände auf verschiedene Gegenstände legte, als wolle er sie zerdrücken. Eines aber, was mir besonders im Gedächtnis haften blieb, möchte ich so wörtlich wie möglich wiedergeben; es enthüllt mehr als alles andere die Geschichte seines Geschlechtes:

    »Wir Szekler sind zurecht stolz, denn in unseren Adern fließt das Blut so manches tapferen Volkes, das wie ein Löwe um die Macht gekämpft hat. Hierher, in den Wirbel der europäischen Rassen trug der ugrische Stamm von Island den wilden Kampfgeist herunter, den Wotan und Thor ihm eingepflanzt hatten. Sie überschwemmten als gefürchtete Berserker die Küsten Europas, und die von Asien und Afrika dazu, sodass die Völker dachten, ein Heer von Werwölfen wäre über sie hereingebrochen. Als sie in dieses Land kamen, trafen sie mit den Hunnen zusammen, deren grausame Kriegslust wie eine lodernde Fackel über die Erde gefegt war, und von denen die sterbenden Nationen sich erzählten, sie wären Nachkommen jener Hexen, die einst, aus dem Skythenland vertrieben, sich in der Steppe mit Teufeln gepaart hätten. Welche Narren, welche Narren! Welcher Teufel, welche Hexe wäre je so mächtig gewesen wie Attila, dessen Blut auch in diesen Adern kreist?« Er streckte seine Arme aus. »Ist es da ein Wunder, dass wir ein Stamm von Eroberern, dass wir stolz sind? Wo wir die Horden der Magyaren, der Lombarden, der Awaren, der Bulgaren und der Türken, die zu Tausenden gegen unsere Grenzen brandeten, zurückgetrieben haben? Ist es verwunderlich, dass, als Arpad mit seinen Legionen das ungarische Land überschwemmte , er nur bis an unsere Grenzen kam, wo er auf uns traf und die Honfoglalás ein Ende hatte?

    Als die Flut der Ungarn weiter nach Osten schwappte, sahen die siegreichen Magyaren uns Szekler als Verwandte, und uns ward für Jahrhunderte der Schutz der Grenze gegen die Türken anvertraut – was keine leichte Aufgabe war, denn, wie der Türke sagt: ›Das Wasser schläft, aber der Feind schläft nie!‹ Niemand unter den Vier Nationen**nahm das blutige Schwert freudiger auf als wir, niemand eilte geschwinder zur Standarte des Königs, wenn zu den Waffen gerufen wurde! Dann kam die große Schmach unseres Volkes, die Schmach von Cassova. Wer war es, der als Woiwode die Donau überschritt und die Türken auf eigenem Boden schlug, als die Banner der Walachen und Magyaren vor dem Halbmond in den Staub sanken? Wer anders als einer meines Geschlechtes, ein Dracula! Als er jedoch gefallen war, da verkaufte sein eigener unwürdiger Bruder das Volk an die Türken zu schmachvoller Knechtschaft. Dann aber war es wieder jener Geist des ersten Dracula, der einen Späteren seines Geschlechts über den breiten Strom gehen und ins Land der Türken einfallen ließ, immer und immer wieder. Wurde er auch zurückgetrieben, wurde sein Heer auch vernichtet und kehrte er auch als Einziger zurück, so griff er dennoch wieder an, denn er wusste, dass nur er allein den Sieg erzwingen konnte. Manche behaupteten, er hätte nur an sich gedacht! Pah, wozu taugen Bauern denn ohne einen Herren? Wie soll denn ein Feldzug gelingen, ohne einen Kopf und ein Herz, ihn zu führen? Nun, als wir nach der Schlacht von Mohács das ungarische Joch abschüttelten, da waren wieder wir aus dem Blute der Dracula die Anführer, denn unser stolzer Geist konnte das Bewusstsein nicht ertragen, unfrei zu sein. Ja, junger Herr, die Szekler und die Draculas als ihr Herzblut, ihr Hirn und ihr Schwert können sich einer Vergangenheit rühmen, an die diese Emporkömmlinge von Romanows oder Habsburgern niemals heranreichen werden! – Aber heute sind die kriegerischen Zeiten vorbei. Blut ist ein zu kostbares Ding in diesen Tagen des ehrlosen Friedens, und der Ruhm großer Geschlechter ist nur noch ein Märchen, das man sich erzählt …«

    Darüber war schon fast wieder der Morgen angebrochen, und wir gingen zu Bett.

( Anm.: Das Tagebuch ähnelt erschreckend den Erzählungen aus »Tausendundeiner Nacht«, denn immer bricht es mit dem ersten Hahnenschrei ab. Ganz ähnlich auch wie der Geist von Hamlets Vater.)