Jonathan Harkers Tagebuch
(in Kurzschrift verfasst)
15. Mai
Erneut habe ich den Grafen auf Eidechsenart die Burg verlassen sehen. Er stieg schräg hinunter, wohl hundert Fuß tief und etwas nach links. Dann verschwand er in einer Höhle oder einem Fenster. Als sein Kopf nicht mehr sichtbar war, lehnte ich mich hinaus, um mehr zu sehen, aber ohne Erfolg – die Entfernung war zu groß, um aus meinem Blickwinkel noch etwas zu erkennen. Ich wusste aber, dass er die Burg verlassen hatte, und wollte diese Gelegenheit auszunutzen, um mehr herauszufinden, als mir bis jetzt gelungen war. Daher ging ich in mein Zimmer zurück, holte meine Lampe und probierte auf meiner Etage eine Tür nach der anderen. Sie alle waren, wie ich es nicht anders erwartet hatte, verschlossen, und die Schlösser waren verhältnismäßig neu. Daraufhin stieg ich die Steintreppe hinunter und gelangte in die große Halle, durch die ich in die Burg eingetreten war. Hier vermochte ich zwar die Riegel des Tores zurückzuschieben und die Ketten auszuhängen, aber das Tor war verschlossen und der Schlüssel fehlte. Er muss im Gemach des Grafen sein, es gilt also aufzupassen, wann dessen Tür einmal unverschlossen ist, sodass ich den Torschlüssel von dort holen und entfliehen kann. Ich unternahm dann eine gründliche Untersuchung der verschiedenen Treppen und Gänge, wobei ich jede Tür, auf die ich traf, zu öffnen versuchte. Einige kleine, an die Halle angrenzende Zimmer waren tatsächlich offen, aber es war nichts in ihnen zu finden als altes Mobiliar, grau, verstaubt und von Motten zerfressen. Schließlich entdeckte ich am Ende einer Treppe doch noch eine Tür, die zwar verschlossen war, die aber unter meinem Druck etwas nachzugeben schien. Ich versuchte es stärker und fand, dass sie nicht eigentlich verschlossen war; der Widerstand rührte daher, dass |55| die Türangeln sich gesenkt hatten und der Türflügel am Boden klemmte. Das war nun eine Gelegenheit, wie sie sich so schnell nicht wieder bieten mochte; ich nahm also meine ganze Kraft zusammen, und es gelang mir, die Tür zumindest so weit zu öffnen, dass ich hindurchschlüpfen konnte. Ich befand mich darauf in dem Flügel der Burg, der sich rechts von den mir bekannten Räumen hinzog, aber ein Stockwerk tiefer. Aus dem Fenster blickend erkannte ich, dass diese Zimmerreihe den südlichen Teil der Burg bilden musste. Das letzte Zimmer hatte Fenster nach Süden und Westen, nach beiden Richtungen hin blickte man jedoch in einen tiefen Abgrund. Die Burg ist offenbar auf einer Felszunge errichtet und von drei Seiten aus unzugänglich. In diesem Raum, wohin weder Schleudern noch Bogen oder Feldschlangen reichten , waren große Fenster angebracht; das Zimmer, das gegen keinen feindlichen Angriff gesichert werden musste, war licht und schön. Nach Westen hin dehnte sich ein weites Tal, und fern, ganz fern erhoben sich gezackte Felswälle, Gipfel an Gipfel. Die steilen Wände waren bewachsen mit Bergesche und Dorngestrüpp, deren Wurzeln sich in den Spalten und Rissen des Gesteins festklammerten. Hier war ich offenbar in dem vor langen Zeiten von Damen bewohnten Teil der Burg, denn die Möbel waren weit bequemer, als ich sie bisher gesehen hatte. Die Fenster waren ohne Vorhänge, und das gelbe Mondlicht flutete so hell durch die kristallklaren Scheiben, dass man sogar Farben erkennen konnte. Zugleich machte es den Staub, der über allem lag, weniger sichtbar und verwischte die Spuren der Zeit und der Motten einigermaßen. Mein Licht schien in dem glänzenden Mondschein nur schwach zu leuchten, aber ich war froh, dass ich es hatte, denn es lag eine schreckliche Einsamkeit über dem Raum, die mir das Herz zusammenzog. Allerdings war es mir hier immer noch wohler als allein in meinem eigenen Zimmer, das mir durch die Gegenwart des Grafen verleidet worden war. Meine nervöse Erregung legte sich allmählich, und mich ergriff eine wohltuende Ruhe. So sitze ich nun an einem kleinen Eichentisch, an dem vor langen Zeiten vielleicht manche hübsche Dame mit vielen Gedanken und vielem Erröten unbeholfen einen Liebesbrief buchstabierte, und schreibe stenografisch in mein Tagebuch alles, was mir seit meiner letzten Eintragung passiert ist. Wir leben also wirklich im neunzehnten Jahrhundert? Wenn mich meine Sinne nicht trügen, so haben die vergangenen Jahrhunderte immer noch eine Macht, die auch unsere Modernität nicht zu besiegen vermag.