25. Juli – Mina

    Mina Murrays Tagebuch

     25. Juli

    Ich bin vor einer Stunde mit Lucy hier heraufgekommen, und wir hatten ein sehr interessantes Gespräch mit meinem alten Freund und den zwei anderen, die sich ihm immer zugesellen. Er ist für sie offenbar eine Autorität und muss seinerzeit eine diktatorische Persönlichkeit gewesen sein. Er lässt nur seine eigene Meinung gelten und diskutiert jeden nieder. Wenn er mit seinen Argumenten nicht siegen kann, wird er grob und nimmt das darauf eintretende Stillschweigen dann für Zustimmung. Lucy sieht süß aus in ihrem weißen Tenniskostüm: Sie hat Farbe bekommen, seit sie hier ist. Ich bemerkte, dass die alten Männer Eile hatten, heraufzukommen und sich neben sie zu setzen. Sie ist so nett mit den alten Leuten; ich glaube, diese haben sich schlankweg in sie verliebt. Sogar mein alter Freund gab sich besiegt und widersprach ihr nicht, während er mir dagegen doppelten Widerstand leistete. Ich brachte ihn auf das Thema alter Legenden, und er begann plötzlich, eine Art Rede zu halten. Ich will versuchen, sie aus dem Gedächtnis niederzuschreiben.

    »Das is’ alles Unsinn, das ganze Zeug, nichts als Lug und Trug! Diese Geschichten von Verwunschenen, Geistern, Kobolden, wandelnden Seelen und so weiter taugen nur dazu, Kinder und schwache Weiber zittern zu machen. Sie sind nichts weiter als Einbildungen. Sie und alle Vorzeichen und Warnungen und Drohungen sind erfunden von Pfaffen, schlappen Bücherwürmern und Straßendieben, um den Leuten ein bisschen Gänsehaut zu machen oder sie zu etwas zu bringen, was sie sonst nich’ täten. Ich werde ganz wild, wenn ich nur daran denke! Aber nich’ genug, dass sie diese Lügen in Zeitungen drucken und von den Kanzeln herunter predigen, nein, sie müssen sie auch auf die Leichensteine schreiben. Schauen Sie sich nur um, all diese Steine hier, die so stolz und aufrecht stehen – umfallen müssten sie eigentlich unter der Last der Lügen, die sie tragen: ›Hier liegt begraben…‹ und ›Im ewigen Gedenken…‹ steht auf jedem. Dabei liegt kaum unter der Hälfte von ihnen wirklich ein Toter. Und mit ›ewigem Gedenken‹ is’ auch nichts, keine Prise Schnupftabak is’ das wert. Nur Lügen, nichts als Lügen, so oder so! Mein Gott, das wird ein sonderbares Gedränge geben am Jüngsten Tage, wenn sie alle hier heraufkommen, um ihre Grabsteine zu holen, mit denen sie im Jenseits beweisen wollen, wie gut sie hienieden waren. Die Hälfte wird ganz klapperig sein, und ganz verhutzelt vom langen Liegen im Meer.«

    Ich sah an der selbstzufriedenen Miene des alten Mannes und an der Art, wie er sich nach dem Beifall seiner Kameraden umsah, dass er meinte, mir nun gehörig imponiert zu haben. Um ihn zum Weiterreden zu veranlassen, entgegnete ich:

    »Aber, Mr. Swales, das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Sicher sind diese Grabsteine doch nicht alle falsch?«

    »Meinetwegen, dann mögen halt ein paar wenige zutreffen, aber nich’ die, auf denen die Leut’ zu doll gelobt werden. Es gibt Leut’, die halten einen Nachttopf für das Meer, solange er nur ihnen gehört. Überall nur Lügen. Nu, sehen Sie mal, da kommen Sie als Fremde hierher, und Sie sehen diesen Gottesacker hier…« – Ich nickte, um ihm so meine Zustimmung zu zeigen, obgleich ich seinen Dialekt kaum verstand. Dass er vom Friedhof sprach, hatte ich immerhin mitbekommen. Er fuhr fort: »Glauben Sie wirklich, dass alle diese Steine da über Toten stehen, die hier in Ruhe modern?« Ich nickte wieder als Zeichen der Zustimmung. »Nu, sehen Sie, genau da beginnt schon der Schwindel: Da sind nämlich Gräber dabei, die sind so leer wie die Tabakbox vom alten Dun am Freitagabend!« Er stieß seine Freunde an, und alle lachten. »Und bei Gott, wie sollte das auch anders sein? Sehen Sie einmal diesen hier an, den ersten hinter der Bank, lesen Sie nur!« Ich ging hinüber und las:

    »Edward Spencelagh, Seemann, ermordet von Piraten vor der Küste von Andres im April 1854, im Alter von 30 Jahren.« Als ich wieder zurück war, fuhr Mr. Swales fort:

    »Da frage ich mich doch, wer den wohl heimgebracht haben soll, um ihn hier zu verbuddeln! Ermordet vor der Küste von Andres! Und Sie meinen wirklich, der würde hier liegen? Nu, ich könnte Ihnen sofort ’n gutes Dutzend Namen nennen, deren Knochen oben vor Grönland auf dem Meeresgrund liegen« – er wies mit seinem Arm nach Norden – »oder dort, wohin die Strömungen sie gespült haben mögen. Ihre Grabsteine stehen aber hier um uns herum. Sie können mit Ihren jungen Augen sogar noch die kleine Schrift auf den Lügensteinen lesen. Da, Braithwaite Lowrey – ich kannte seinen Vater, vermisst mit der »Lively« vor Grönland anno 20; oder Andrew Woodhouse, 1777 in denselben Gewässern ertrunken. Oder John Paxton, ein Jahr später bei Cape Farewell ertrunken, oder der alte John Rawlings, dessen Großvater mit mir zusammen gesegelt ist, der ertrank im Golf von Finnland anno 50. Glauben Sie denn, dass alle diese Leute nach Whitby stürzen werden, wenn die Posaune des Jüngsten Gerichts ertönt? Da hab’ ich doch einige Bedenken. Ich sag’ Ihnen was: Wenn die wirklich alle herkommen sollten, dann würd’ das ein Handgemenge geben wie in den alten Zeiten auf dem Eis draußen, wo wir von morgens bis abends aneinander war’n und am Abend dann beim Polarlicht unsere Schrammen einwickelten.« Das war offenbar ein stehender Witz unter den Einheimischen, denn der alte Herr kicherte amüsiert, und seine Kumpane stimmten vergnügt ein.

    »Nun«, sagte ich, »wie dem auch sei, mit Ihrer Behauptung, dass all die armen Seeleute oder ihre Seelen zum Jüngsten Gericht ihre Grabsteine mit hinaufschleppen müssen, liegen Sie gewiss falsch. Meinen Sie denn wirklich, dass das nötig sein wird?«

    »Nu, zu was wären die Grabsteine denn sonst gut? Können Sie mir das vielleicht sagen, Miss?«

    »Zum Trost der Angehörigen, denke ich.«

    »Zum Trost der Angehörigen, meint sie!«, sagte er spöttisch. »Wie kann es denn die Verwandten trösten, wo sie doch wissen – und wo die ganze Stadt es weiß –, dass da nur Lügen draufstehen?« Er deutete auf den alten Grabstein zu unseren Füßen, der als Unterlage für unsere Bank diente, die dicht an der Klippe stand. »Lesen Sie nur einmal die Zeilen auf diesem Grabstein da«, sagte er. Von meinem Platz aus standen die Buchstaben auf dem Kopf, Lucy aber saß günstiger und las:

    »›Zur ewigen Erinnerung an George Canon, der in der Hoffnung auf die Auferstehung starb am 29. Juli 1873, da er von den Felsen von Kettleness stürzte. Dieses Denkmal wurde dem heiß geliebten Sohn von seiner trauernden Mutter errichtet. Er war der einzige Sohn seiner Mutter, und sie war Witwe.‹ – Wirklich, Mr. Swales, das finde ich überhaupt nicht spaßig!« – Lucy sprach diese Worte mit ernster, fast ein wenig strenger Stimme.

    »Sie finden’s überhaupt nich’ spaßig? Ha, ha! Das kommt daher, weil Sie nich’ wissen, dass die Mutter eine richtige Höllenkatze war, die ihn hasste, weil er krumm war – ein richtiger Krüppel war der! Und er hasste sie so sehr, dass er sich umbrachte, nur damit sie nich’ die Versicherungssumme bekam, die sie auf sein Leben abgeschlossen hatte. Er hat sich nämlich die Schädeldecke mit ’ner alten Muskete weggeschossen, die sie zu Hause hatten, um die Krähen damit zu erschrecken. Auf diese Weise is’ er vom Felsen gepurzelt. Und was die Hoffnungen auf die Auferstehung anbetrifft, da hab ich ihn öfter sagen hören, er wolle in die Hölle. Seine Mutter war nämlich so fromm, dass er sie nich’ auch noch im Himmel ertragen wollte. Nu, was sagen Sie, is’ dieser Stein nich’ in jeder Hinsicht« – er hämmerte mit seinem Gehstock darauf herum, während er sprach – »ein Haufen Lügen? Und wird der Erzengel Gabriel nicht kichern, wenn Georgie, den Leichenstein auf seinem Buckel schleppend, die Stufen hinaufgehumpelt kommt, um sich damit zu legitimieren?«

    Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, aber Lucy gab dem Gespräch eine andere Wendung, indem sie im Aufstehen sagte:

    »Oh, warum haben Sie uns dies erzählt? Hier ist mein Lieblingsplatz, und ich will ihn nicht aufgeben. Und da sagen Sie mir nun, dass ich auf dem Grab eines Selbstmörders sitze!«

    »Das schadet Ihnen schon nichts, mein Herzchen, und es würde dem armen Georgie gewiss eine große Freude bereiten, wenn er wüsste, dass so ein süßes Ding auf seinem Grabstein sitzt. Das darf Sie also nicht genieren. Sehen Sie, ich sitze hier schon fast zwanzig Jahre lang, und es ist mir noch nie ein Leid geschehen. Kümmern Sie sich also nich’ darum, was da unter Ihnen liegt oder auch nich’ liegt. Erst, wenn Sie all die Grabsteine davonrennen sehen und der Platz hier so blank wie ein Stoppelfeld ist, dann ist’s an der Zeit, sich zu gruseln. – Da schlägt die Uhr, ich muss los. Ich empfehle mich, meine Damen!« Und schon humpelte er davon.

    Lucy und ich blieben noch eine Zeit lang sitzen, und es war so viel Schönheit vor unseren Blicken ausgebreitet, dass wir einander die Hände hielten. Sie sprach unablässig von Arthur und ihrer kommenden Hochzeit, was mich fast ein wenig herzenskrank machte, denn ich habe nun schon seit über einem Monat nichts mehr von Jonathan gehört.

     

    Am selben Tag

    Ich kam alleine wieder hier herauf, denn ich bin sehr betrübt. Es war immer noch kein Brief für mich da. Ich hoffe inständig, dass Jonathan nichts zugestoßen ist. Eben hat es neun geschlagen. Ich sehe die über die Stadt verstreuten Lichter, wo die Straßen entlanglaufen, bilden sie Reihen, dann leuchten sie wieder vereinzelt an verschiedenen Stellen. Sie laufen den Esk hinauf und verlieren sich schließlich in der Biegung des Tales. Links ist mir die Aussicht durch das dunkle Dach des Hauses neben der alten Abtei versperrt. Lämmer und Schafe blöken auf der Weide hinter mir, und man vernimmt das Klappern von Eselshufen auf der gepflasterten Straße tief unten. Eine Musikkapelle spielt auf dem Pier einen schnellen Walzer, sie halten den Takt ausgezeichnet. Weiter entfernt vom Hafen ist irgendwo in einem Nebengässchen eine Zusammenkunft der Heilsarmee. Keine der Kapellen stört die jeweils andere, aber von hier oben aus kann ich sie beide hören. Wo mag Jonathan gerade sein, ob er wohl an mich denkt? Ich wünschte, er wäre hier.