06. August – Mina

Mina Murrays Tagebuch

6. August
Weitere drei Tage ohne Nachricht. Dieses Warten wird langsam unerträglich. Wenn ich nur wüsste, wohin ich schreiben oder an wen ich mich wenden könnte, dann wäre es mir leichter. Aber niemand hat ein Wort von Jonathan erhalten seit seinem letzten Brief. Es bleibt mir nichts weiter übrig, als Gott um Geduld zu bitten. – Lucy ist erregter als gewöhnlich, befindet sich aber ansonsten wohl.

Die letzte Nacht sah es draußen sehr bedrohlich aus, und die Fischer prophezeiten Sturm. Ich werde versuchen, auf so etwas zu achten und die Wetterzeichen kennenzulernen. Heute haben wir einen grauen Himmel, und die Sonne steht, während ich dies schreibe, in Wolken gehüllt hoch über Kettleness. Außer dem smaragdgrün leuchtenden Gras ist alles grau; graue Felsen, über der grauen See hängen graue Wolken, deren unterste Ränder von der Sonne kaum durchleuchtet werden, und die Sandbänke strecken sich wie graue Finger ins Meer hinaus. Die See brandet über die Untiefen und Sandbänke, und graue Nebel streichen landeinwärts. Auch der Horizont verliert sich in grauem Dunst. Alles ist so riesig, die Wolken türmen sich wie gigantische Felsen, und über dem Wasser liegt ein dumpfes Brummen, als kündigte sich ein Unglück an. Dunkle Gestalten tauchen da und dort am Strand auf, zuweilen halb verhüllt von den Nebeln – sie sehen aus wie wandelnde Bäume. Die Fischerboote eilen heimwärts und heben und senken sich in der Brandung, bevor sie in den Hafen einlaufen und sich schräg übers Speigatt auf die Seite legen. Da kommt der alte Mr. Swales. Er hält direkt auf mich zu, und an der Art, wie er den Hut abnimmt, erkenne ich, dass er mit mir sprechen will …

Ich bin tief ergriffen von der Veränderung, die in dem Alten vorgegangen ist. Nachdem er sich neben mich gesetzt hatte, begann er in einer sehr sanften Weise:
»Ich habe Ihnen etwas zu sagen, Miss.« Ich sah, dass es ihm nicht leicht wurde. So nahm ich denn seine alte runzlige Hand und bat ihn, geradeheraus zu sprechen. Dann sagte er, indem er seine Hand in der meinen ließ:
»Ich fürchte, meine Liebe, ich habe Sie mit all den hässlichen Dingen gekränkt, die ich die letzte Woche gesagt hab’, über die Toten und so. Doch so bös’ hab ich es nich’ gemeint, und ich bitt’ Sie, daran zu denken, wenn ich einmal nich’ mehr bin. Wir alten Leut’, die doch schon gebrechlich sind und mit einem Fuß im Grabe stehen, wir lieben es nich’, daran zu denken, und wir fühlen auch nich’ gern die Nähe des Todes. Deshalb hab’ ich mein eigenes Herz etwas aufheitern und mich etwas erleichtern wollen. Aber, Gott segne Sie, Miss, ich fürchte den Tod nich’, nich’ ein bisschen, ich will nur jetzt noch nich’ sterben, wenn’s möglich ist. Meine Zeit wird schon recht nahe sein, denn ich bin alt, und volle hundert Jahre sind zu viel, als dass man das erwarten dürfte, dabei bin ich so nahe dran, dass der Knochenmann wohl schon seine Sense schleift. Sie sehen, ich kann nich’ von der Gewohnheit lassen, darüber zu scherzen. Bald wird der Todesengel für mich seine Posaune ertönen lassen. – Aber nu fangen Sie mal nich’ an zu weinen, meine Liebe!« Er sah, dass mir die Tränen kamen. »Und wenn er heut Nacht noch riefe, so würd’ ich mich nich’ sträuben, seinem Ruf zu folgen. Denn das Leben ist schließlich doch nichts als ein Warten auf etwas anderes, was wir gerade nicht haben, nur der Tod ist etwas, worauf wir uns unbedingt verlassen können. Aber ich bin zufrieden, wenn er zu mir kommt, und er kommt rasch. Er kann schon unterwegs sein, während wir da hinausschauen und nachdenken. Vielleicht kommt er mit dem Wind weit draußen über der See, der Zerstörung, Schiffbruch, Verzweiflung und Trauer bringt. – Doch sehen Sie nur da, sehen Sie!«, unterbrach er sich plötzlich. »Da ist etwas in diesem Wind und in der Luft, das sieht aus und riecht und schmeckt wie der Tod. Er liegt in der Luft, ich fühle ihn kommen. Mein Gott, lass mich zuversichtlich sein, wenn der Ruf an mich ergeht!« Er breitete seine Arme demütig aus, erhob seinen Kopf und bewegte den Mund, als würde er beten. Nach einigen Augenblicken des Stillschweigens erhob er sich, drückte mir die Hand, segnete mich und sagte mir Lebewohl, dann humpelte er davon. All das rührte mich tief und regte mich sehr auf.
Ich war froh, als ein Mann von der Küstenwacht mit seinem Fernrohr unter dem Arm vorbeikam. Er blieb stehen, um mit mir ein paar Worte zu wechseln, wie es hier üblich ist, aber er sah dabei immer wieder hinaus zu einem seltsamen Schiff.
»Ich kann’s nicht genau erkennen«, sagte er, »dem Aussehen nach ist es russisch, aber es schaukelt so eigentümlich herum, als ob die Mannschaft überhaupt keinen Plan hätte. Sie sehen wohl den Sturm kommen, können sich aber nicht recht entscheiden, |113| ob sie nach Norden ins offene Meer sollten oder bei uns festmachen. Sehen Sie nur! Die steuern mächtig komisch, vielleicht gehorcht das Schiff dem Steuermann gar nicht mehr? Jeder Windstoß wirft sie hin und her. Nun, bis morgen um diese Zeit werden wir wohl noch einiges erleben!«