19. Mai – Jonathan

    Jonathan Harkers Tagebuch

    (in Kurzschrift verfasst)

   

19. Mai

    Ich bin in der Falle. Letzte Nacht bat mich der Graf in der höflichsten Weise, ich möge drei Briefe schreiben; einen, dass meine Arbeit hier nahezu getan wäre und ich in wenigen Tagen die Heimreise antreten werde, den zweiten, dass ich am folgenden Tag abzureisen gedächte, und den dritten, dass ich die Burg verlassen hätte und in Bistritz angekommen wäre. Ich wollte erst protestieren, fühlte dann aber sofort, dass es bei der gegenwärtigen Lage der Dinge Wahnsinn wäre, offen gegen den Grafen zu rebellieren, in dessen absoluter Gewalt ich mich doch befinde. Das Abschlagen seiner Bitte hätte nur seinen Zorn und seinen Argwohn erregt. Er weiß, dass ich zu viele seiner Geheimnisse erahne, und er wird mich nicht lebend davonkommen lassen, da ich ihm sonst gefährlich werden könnte. Das Einzige, was ich jetzt versuchen kann, ist Zeit zu gewinnen. Vielleicht bietet sich mir ja doch noch irgendeine Gelegenheit zur Flucht? Er erklärte mir seinen Wunsch damit, dass die Post selten und unregelmäßig ginge und dass meine Freunde meine Nachrichten schneller erhielten, wenn ich sie gleich jetzt schriebe. Zudem versicherte er mir mit seiner ganzen Beredsamkeit, dass mein letzter, von Bistritz datierter Brief dort bis zur fälligen Zeit aufbewahrt werden würde und dass man ihn natürlich nicht abgehen ließe, wenn ich etwa meinen Aufenthalt noch zu verlängern gedächte. Ich konnte ihm einfach nicht widersprechen, wollte ich ihm nicht neue Verdachtsgründe gegen mich geben, und antwortete daher, ich wäre vollkommen seiner Ansicht. Auf meine Frage, welche Daten ich denn auf die Briefe setzen sollte, rechnete er einen Augenblick nach, dann entgegnete er:

    »Auf den ersten Brief 12. Juni, auf den zweiten 19. Juni und auf den dritten 29. Juni.«

    Nun weiß ich, wie lange ich noch zu leben habe. Gott steh mir bei!