28. Mai – Jonathan

    Jonathan Harkers Tagebuch

    (in Kurzschrift verfasst)

   

28. Mai

    Es gibt eine Möglichkeit zur Flucht, oder wenigstens die Gelegenheit, eine Nachricht nach Hause zu senden! Eine Gruppe Szigany ist in die Burg gekommen und hat im Hof ihr Lager aufgeschlagen. Die Szigany sind Zigeuner, ich habe einiges über sie in meinen Papieren notiert. Sie sind eine Besonderheit dieses Landstriches, aber verwandt mit den anderen Zigeunern, die über die ganze Welt zerstreut sind. Tausende von ihnen nomadisieren in Ungarn und Transsilvanien, wo sie fast vollkommen rechtlos sind. Sie stellen sich daher in der Regel unter den Schutz eines Edelmannes oder Bojaren, dessen Namen sie dann annehmen. Sie sind furchtlos und, von ihrem Aberglauben einmal abgesehen, ohne jegliche Religion, und sie sprechen fast ausschließlich ihr ganz eigenes Romani-Idiom.

    Ich will einige Briefe schreiben und versuchen, diese durch sie aufgeben zu lassen. Durchs Fenster habe ich mich bereits bemerkbar gemacht und erste Bekanntschaft mit ihnen geknüpft. Sie nahmen ihre Hüte ab, verbeugten sich und machten mir Zeichen, die ich aber leider ebenso wenig verstand wie ihre Sprache …

     

    Ich habe die Briefe nun fertig. Der an Mina ist in Kurzschrift verfasst, und Mr. Hawkins habe ich schlicht angefleht, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Mina habe ich meine Lage klar geschildert, ohne derjenigen Schrecken Erwähnung zu tun, die ich mir vielleicht doch nur einbilde – es würde sie ohnehin zu Tode entsetzen, wenn ich ihr mein ganzes Herz ausschütten wollte. Sollten die Briefe nicht durchkommen, so soll der Graf wenigstens nicht meine Geheimnisse und den ganzen Umfang meiner Kenntnisse wissen…

     

    Ich bin die Briefe los; ich warf sie zusammen mit einem Goldstück durch die Gitter meiner Fenster und machte den Zigeunern durch Zeichen so deutlich wie möglich, dass sie sie weiterleiten sollten. Der Mann, der sie an sich nahm, drückte sie ans Herz, verbeugte sich und steckte sie dann in seine Mütze. Mehr konnte ich nicht tun. Ich stahl mich darauf wieder in die Bibliothek und begann zu lesen. Da der Graf nicht da ist, schreibe ich jetzt hier weiter…

     

    Der Graf ist gekommen! Er setzte sich zu mir und sagte in der ruhigsten Weise, während er mit zwei Briefen wedelte:

    »Dies hier haben mir die Szigany gegeben, und ich muss mich wohl darum kümmern, auch wenn ich nicht weiß, woher das kommt. – Aber sehen Sie nur«, er hatte die Briefe mit Bestimmtheit längst untersucht, »einer ist sogar von Ihnen und für meinen Freund Peter Hawkins! Aber dieser andere hier …« Er öffnete den zweiten Brief, und sein Gesicht verfinsterte sich über den seltsamen Zeichen. Seine Augen funkelten böse. »Die ser andere ist ein widerwärtiges Ding, ein Verrat an Freundlichkeit und Gastfreundschaft! Was sehe ich, er ist nicht unterschrieben? Nun dann, so geht er uns auch nichts weiter an!« Und ruhig hielt er Brief und Umschlag an die Flamme der Lampe, bis diese das Papier vollständig verzehrt hatte. Dann fuhr er fort:

    »Den Brief an Hawkins werde ich natürlich, da er ja von Ihnen ist, wegschicken. Ihre Briefe sind mir heilig. Sie verzeihen, mein Freund, dass ich versehentlich das Siegel erbrach. Wollen Sie den Brief nicht wieder verschließen?« Er reichte mir den Brief und übergab mir mit eleganter Handbewegung ein neues Kuvert. Ich konnte nichts tun, als das Schreiben erneut zu adressieren und ihm schweigend auszuhändigen. Als er aus dem Zimmer trat, hörte ich ihn den Schlüssel leise von außen umdrehen. Eine Minute später ging ich zur Tür und fand sie wirklich verschlossen.

    Als nach ein oder zwei Stunden der Graf wieder still das Zimmer betrat, weckte mich sein Kommen auf, denn ich war auf dem Sofa eingeschlafen. Er war, wie gewöhnlich, sehr höflich und liebenswürdig, und als er bemerkte, dass ich geschlafen hatte, sagte er:

    »Soso, mein Freund, Sie sind müde? Gehen Sie zu Bett, da finden Sie die sicherste Ruhe. Ich muss mir leider heute Abend das Vergnügen versagen, mit Ihnen zu plaudern, denn ich habe sehr viel zu tun. Sie aber müssen schlafen, glauben Sie mir!« Ich begab mich in mein Zimmer, legte mich nieder und schlief seltsamerweise traumlos. Verzweiflung kennt wohl eine eigene Art der Ruhe.